Landschreiber-Lesung “1664”

11.06.2014  in der  Scheier 1664

Roswitha Wünsche-Heiden – Wahlzeit

Der Wahlkampf war hart und unfair. Schließlich ging es um nicht mehr und nicht weniger als um den Posten des Ortsbürgermeisters in den nächsten fünf Jahren. Nach ein wenig Einstimmungsgeplänkel waren beide Seiten zunehmend in Fahrt geraten. Schnell waren die gängigen Wahlkampfstrategien langweilig geworden und man begann in den Kellern des politischen Gegners nach Leichen zu suchen. Da es solche nicht gab, wühlte man tief in den unteren Schubladen nach ehrabschneiderischen Hinweisen und wenn da immer noch keine schmutzige Wäsche zu finden war, hatte man keine Skrupel, solche zu erfinden. “Ehrlich und fair”, ließ sich der eine Spitzenkandidat auf den Wahlplakaten nennen. “Wir stehen für Fairness und Ehrlichkeit” stand in der Anzeige, die die Wählergruppe in die Zeitung gesetzt hatte. Er sei viel zu alt, lastete man dem Kandidaten mit der zwanzigjährigen Gemeinderatserfahrung an, mangelnde Erfahrung demjenigen, der als blutjunger Nachrücker bisher nur wenig Sitzungsluft geschnuppert hatte. Immer wieder gern genutzt wurden Vorwürfe der Vorteilnahme. Gleich mehrere Mitglieder der Wählergruppe erfreuten sich des Schlagschattens von Windrädern auf ihren Feldern, Mitglieder der Partei hatten durch entsprechende Planungen in früheren Legislaturperioden Anteile an einem Freizeitgelände günstig verkaufen können. Je weiter der Wahlkampf fortschritt, desto persönlicher wurden die Vorwürfe. Man übersah keine Affaire, kein uneheliches Kind und keine Brustvergrößerung, die eine Kandidatin einmal zugegeben hatte. Da war die Rede von Geschäftsbeziehungen, die es nie gegeben hatte, sowie von Plänen für eine Justizvollzugsanstalt, für die ein Mitglied der Gegenpartei angeblich schon Ländereien erworben hatte.

Für die potentiellen Wähler hatte der Wahlkampf auch angenehme Seiten. Um diejenigen positiv zu stimmen, die genervt von der Papierflut, die für viel Geld erstellten Flyer mit den professionellen Hochglanzfotos schon lange nicht mehr ansahen und gleich in die Tonne warfen, gab es außer Armeen von Kugelschreibern von der Wählergruppe zu Ostern einen Ostergruß mit Schokoladenhäschen, von der Partei eine Rose zum Muttertag. In der Hoffnung auf die Stimmen der Jungwähler lud die Partei zu einer Wahlparty mit Pizza ein, die andere zu einer ebensolchen mit heißen Würstchen. Ärgerlich für die Partei mit dem C im Namen war, dass es Petrus ausgerechnet bei ihrem Familienfest regnen ließ, während das Hoffest des politischen Gegners in strahlendem Sonnenschein stattfand. Da sich hier jedoch beim besten Willen kein Schuldiger finden ließ, versprach man seitens der zu Schaden gekommenen Partei im Fall eines Wahlgewinns eine After-Wahl-Party, die freibiermäßig alles in den Schatten stellen würde, was man jemals in dem Ort erlebt hatte. (Schließlich war das Bier von dem verregneten Fest noch übrig und musste verbraucht werden.)

Der Wahlsonntag verlief friedlich. Es gab keine Tumulte vor dem Wahllokal. Die Wahlhelfer beider Parteien sahen sich gegenseitig bei ihrer Tätigkeit sehr genau auf die Finger. Der Kugelschreiber mit dem Logo der Wählergruppe wurde rechtzeitig vor Öffnung der Wahllokale aus einer der Kabinen entfernt, ebenso ein Plakat der Partei aus dem Eingangsbereich zum Wahllokal. Da sich in dem Jahr sehr viele Wahlberechtigte für die Briefwahl entschieden hatten, gab es lange ereignislose Wartezeiten. Da geschah es, dass die Notgemeinschaft, in der man für jeweils fünf Stunden mit dem politischen Gegner an die Urne gefesselt war, anfing sich miteinander zu unterhalten, sogar solche Paare, die sich aufgrund unschöner Auftritte in der Wahlkampfzeit schon seit Wochen keines Blickes gewürdigt hatten. Mutmaßungen über das Wahlergebnis entsprachen zwar jeweils den eigenen Wünschen, entbehrten aber der Häme des Wahlkampfes.

Als die Wahllokale um 18 Uhr schlossen, zählte der Schriftführer aufgrund der Stimmabgabevermerke im Wählerverzeichnis 1664 Wähler für die Wahl des Bürgermeisters, ehe die Wahlzettel nach Farben sortiert wurden. Wie im Merkblatt für die Beisitzer im Wahlvorstand vorgesehen, wurden nun Arbeitsgruppen für die einzelnen Wahlen gebildet und mit dem Auffalten der Stimmzettel begonnen. In Bündeln zu je 20 Stück über Kreuz aufeinander gelegt, ermittelten zwei Mitglieder des Wahlvorstandes jedes für sich 1664 Wahlzettel. Das war, verglichen mit der letzten Kommunalwahl, eine prozentuale Steigerung von 7,2 % in der Wahlbeteiligung und schraubte die Spannung auf das Wahlergebnis weiter in die Höhe. Nun erst durfte unter der Aufsicht des Wahlvorstehers das Sortieren der Wahlzettel stattfinden: zwei Stapel aus Stimmzetteln mit zweifelsfrei gültiger Stimme, getrennt nach den beiden Wahlvorschlägen; ein weiterer aus Stimmzetteln, die keine Kennzeichnung oder offensichtlich ungültige Stimmabgaben enthielten, der leer blieb. Stimmzettel, die Anlass zu Bedenken gaben, nahm ein Beisitzer in Verwahrung. Dazu gehörten ein eindeutig gekennzeichneter Stimmzettel mit einer Blumenkranzdekoration für den angekreuzten und zwei mit einer Beschimpfung des unerwünschten Kandidaten.

Endlich war der letzte Stimmzettel auseinandergefaltet und auf den zugehörigen Stapel gelegt. Nach der Auszählung der Stimmen hatte der Kandidat der Partei eine hauchdünne Mehrheit von vier Stimmen, und zwar mit 832 gegenüber 828 Stimmen des Gegners. Schon knallten die ersten Sektkorken, schon lagen sich die Parteifreunde glücklich in den Armen, als der Schriftführerin auffiel, dass die Summe der Stimmen nicht mit der der Stimmzettel übereinstimmte. Rein rechnerisch seien das 1660 Stimmen. Erschrocken stellte man die Sektflaschen zur Seite und machte sich auf die Suche nach den fehlenden Blättern. Bei der ersten Zählung fand man auf einem Zwanziger-Stapel einen 21. Wahlzettel zugunsten der Wählergruppe. Nunmehr insgesamt 1661 Stimmen mit einem Abstand von drei Stimmen zwischen den Kandidaten. Bei einer weiteren Zählung verlangte ein Mitglied der Wählergruppe, dass bei der Gelegenheit auch die Zuordnung zu den Wahlvorschlägen noch einmal überprüft werden solle. Tatsächlich fand sich ein Irrläufer, der den Abstand zwischen beiden Kontrahenten noch einmal verringerte, aber die Gesamtzahl der Stimmen nicht änderte. Erst dann fielen dem Beisitzer die von ihm in Verwahrung genommenen Stimmzettel ein. Sagte er. Ihm, einem Mitglied der Partei, das Gegenteil zu beweisen, war nicht möglich. Das war aber dann auch der letzte Versuch, das Wahlergebnis auf unzulässige Weise zu beeinflussen, wenn es denn einer war. Denn nun wurden diese Stimmzettel für gültig erklärt, ihre Gesamtzahl auf 1664 korrigiert und da die drei zugunsten der Wählergruppe lauteten, wurde diese zum Wahlgewinner. Da der Sekt der Partei inzwischen warm geworden war, zeigte sich der Sieger von seiner freundlichen Seite und stieß, ebenso erschöpft wie die Mitglieder der Partei, mit dem bisherigen Gegner auf gute Zusammenarbeit in der neuen Legislaturperiode an.

© Roswitha Wünsche-Heiden (5/6 2014)

              Rheinhessische Landschreiber