Neuschnee

Eine Geschichte des Landschreibers Eberhard Gladrow

Die Nacht war eisig kalt und tiefschwarz. Der Schnee der letzten Tage gab nur einen matten Widerschein des Mondes, der sich bald ganz hinter die Erde zurückziehen würde, als gäbe er den Kampf gegen die Finsternis verloren.

Paul trat auf die Terrasse seines am Waldrand gelegenen Hauses. Der trockene Schnee knirschte unter seinen Schritten. Er zögerte einen Moment, dann griff er nach dem Stuhl, der unter dem Vordach stand und stellte ihn an den Rand der Terrasse. Er zog den Bademantel dichter um seinen schlanken Körper und setzte sich. Die Schnupftabakdose legte er behutsam in seinen Schoß. Er öffnete sie vorsichtig und krümelte sich bedächtig eine Prise auf den Handrücken und sog das Pulver langsam in die Nase ein. Anfangs hatte er zu heftig geschnupft und musste noch oft niesen, was den Genuss und die Wirkung doch beeinträchtigte. Die Dose hatte ihm der junge Mann mit der bunten Strickwollmütze geschenkt. Als Willkommensgruß für den Beginn einer langen Geschäftsbeziehung, wie dieser sagte. Die Dose stammte aus dem Bayerischen Wald. Sie war schwarz grundiert mit einem bunten Schmetterling als Motiv und einem Verschluss aus Messing. Am Anfang hatte er den Schmetterling oft nachdenklich betrachtet. Ungezwungen durch das Leben zu flattern, mal hier, mal dort, ganz ohne Sorgen – das war ein unerfüllbarer Traum. Jetzt schnupfte er nur noch und wartete auf die Wirkung.

Einige Minuten saß Paul regungslos da, den Kopf gesenkt, in scheinbarer Betrachtung der Dose versunken. Die Haare schienen feucht zu sein, straff nach hinten gekämmt. Nach dem Duschen wollte er eigentlich noch einen Tee trinken und etwas Radio hören und dann Schlafen gehen. Das Nachtprogramm war leider recht sentimental und er spürte wieder die Frustration, die Depression aufsteigen. Deshalb hatte er sich für das Schnupfen entschieden. Draußen, in der Stille und der Einsamkeit der Nacht. Er liebte diese unbelebten Stunden, in denen er seinen Träumen nachhing, seinem Traum von einem anderen Leben. Die Kälte würde er bald nicht mehr spüren, sie würde einem wohligen Gefühl Platz machen.

Ruckartig hob Paul den Kopf und sah in die Schwärze der Nacht, in den Himmel, der sternenlos zu sein schien und von unendlicher Tiefe. Nach einigen Minuten entdeckte er aber einen winzigen Lichtpunkt, dann noch einen, schließlich ganz viele. Ein Sternenmeer wölbte sich über ihn, wie eine Hand, die ihn vor der Nacht und der Kälte schützen wollte. Der Schutz wirkte, Paul fühlte sich leicht und warm, er fühlte sich geborgen.

„Weißt du wieviel Sterne stehen an dem blauen Himmelszelt?“ summte er dankbar vor sich hin. Das Lied erinnerte ihn an seine Kindheit, als die Welt für ihn noch intakt war, als andere dafür sorgten, dass sein Leben in ruhigen, in geordneten Bahnen verlief. Das war Schnee von gestern. Auch die Sorgen von heute waren Schnee von gestern, sie verloren sich in der aufsteigenden Euphorie nach dem Schnupfen.

Er nahm noch eine Prise, um die Wirkung zu verstärken.

Vor einigen Wochen hatte Paul an einem trüben Nachmittag zufällig gehört, wie das kleine Mädchen vom Nachbarhaus aufgeregt nach seiner Mutter rief: „Mama, Mama, der Schneemann ist da.“ Er war gerade dabei gewesen, vor dem Haus die letzten Schneereste wegzufegen. Der Schneemann ist da? Das klang so seltsam, dass er vorsichtig durch die Hecke, welche die Grundstücke trennte, beobachtete, was an der Tür der Nachbarin vor sich ging. Er hatte nicht gewusst, dass dort überhaupt ein kleines Mädchen lebte. Die Mutter hatte er hin und wieder gesehen. Sonst niemanden. Die Leute lebten sehr zurückgezogen. Man hörte und sah von ihnen praktisch nichts. Bei Paul war es allerdings auch nicht anders. Er vergrub sich in seine vier Wände, hatte keine Kontakte und löste sich langsam aber sicher in seiner Depression auf. Einen Ausweg zu suchen hatte er schon längst aufgegeben. Er lebte vor sich hin, so gut es eben ging.

Jetzt sah er, wie ein junger Mann, dunkel gekleidet, aber mit bunter Strickwollmütze, mit der Mutter diskutierte. Dann verschwand sie im Haus und kehrte mit einem Umschlag zurück, er händigte ihr dafür ein kleines Päckchen aus. Der Mann lief danach schnell die Straße hinunter. Mehr konnte Paul nicht sehen, er hörte nur noch ein Auto wegfahren.

Paul brauchte einige Tage, bis er begriffen hatte, dass er mit Hilfe dieses Besuchers der Nachbarin sein Leben angenehmer gestalten könnte. Er klingelte nebenan und bat sie um die Adresse ihres Besuchers. Die habe sie nicht, antwortete sie, aber sie werde ihm sein Interesse weiterleiten. Was auch geschah. Einige Tage später hatte er Besuch.

Vielleicht wird es morgen wieder schneien, überlegte er. Jede Schicht neuen Schnees überdeckt dann die alte, sie ist dann verschwunden. Vielleicht kann man die neue Schicht vorsichtig wegfegen und die alte wieder sichtbar machen. Ist es dann wirklich noch die alte? Hat sie sich vielleicht nicht doch durch den Kontakt mit dem Neuschnee verändert? Ist der Schnee von gestern dann immer noch der Schnee von gestern? Wenn es taut, ist der Schnee weg, der von heute und der von gestern. Ist mein Leben wie der Schnee, sinnierte er? Viele Schichten übereinander, die meisten verborgen? Meine Vergangenheit taut nicht weg, sie bleibt, wie sie ist. Verändert sie sich aber in der Rückschau, wenn ich mein Leben heute ändere?

Noch eine starke Prise, noch ein starkes Gefühl. Ihm wurde warm, sehr warm. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Langsam dämmerte weg er in einen tiefen Schlaf.

Gegen Morgen hatte es tatsächlich angefangen zu schneien. Erst einige wenige Flocken, ganz leichte Flocken, die mehr schwebten, als dass sie fielen. Sie berührten fast den Boden, um dann wieder aufzusteigen. Der Himmel, aus dem sie gekommen waren, schien ihnen näher zu sein als die Erde, zu der sie hinunter mussten. Doch am Ende landete jede einzelne Flocke pflichtbewusst auf den Dächern, auf den Büschen und den Bäumen, auf dem Boden, auf Paul und seiner Dose mit dem bunten Schmetterling. Der neue Schnee puderte den alten Schnee der vergangenen Tage, der schon leicht grau und verschmutzt war, mit frischem Weiß.

Dann setzte ein dichtes Schneetreiben ein, das die Welt hinter einem weißen Schleier verschwinden ließ. Auch Paul verschwand, bald waren er, sein Stuhl und die Dose nur noch ein unförmiger Haufen auf der Terrasse, als ob ein Schneemann in sich zusammengesunken wäre unter der Last des Neuschnees.

Die Wolken zogen weiter, nachdem sie den Schnee von gestern unter einem frischen Weiß begraben hatten. In Tausenden von Schneekristallen spiegelte sich die aufgehende Sonne, ein glitzerndes Meer von silbrigen Sternchen. Der neue Tag begann strahlend hell. Nicht für Paul, sein Leben war Schnee von gestern.

© Eberhard Gladrow

              Rheinhessische Landschreiber