Flugobjekte

Eine Geschichte des Landschreibers Eberhard Gladrow

Etwas war heute anders.

Das spürte Valerie sofort, als sie die Haustür zum Treppenhaus aufschloss und in den Flur trat. Das Flurlicht ging zwar automatisch an wie immer, obwohl es noch hell war. Wie jeden Tag waren die Briefkästen mit Werbung vollgestopft. Auch der Kinderwagen stand wie gewohnt unter dem Treppenabsatz. Mit einem seltsamen Gefühl, einer eigentümlichen Vorahnung stieg sie die Treppen hoch zu ihrer Wohnung im 5. Stock.

Was fühlte sie? Beklemmung? Vorfreude? Angst? Jedes dieser Gefühle hätte seine Berechtigung gehabt.

Die Holzstufen knarrten in vertrauter Weise. Die Birne im 3. Stock war nach wie vor defekt. Die im 5. Stock neuerdings auch. Vor ihrer Wohnungstür verharrte sie einen Augenblick, leicht außer Atem, als überlegte sie umzukehren.

Welches Gefühl hätte sie gewählt, wenn sie hätte wählen können? Sie wusste es nicht. Sie war sich nur im Klaren darüber, dass irgendwann eine Entscheidung getroffen werden müsste. Nur welche? Darüber grübelte sie schon seit Wochen.

Valerie schloss die Wohnungstür auf, blieb aber überrascht auf der Schwelle stehen. Eine ungewohnte Stille erfüllte die Wohnung mit einer Intensität, die sie schlagartig glücklich machte. Erleichtert warf sie ihre rote Einkaufstasche auf den Boden und schlüpfte aus den Sandaletten. Dann lief sie barfuß durch alle Räume und sah sich um.

Im Badezimmer fehlten einige Tuben und Wässerchen. Nur etwas Staub und schwarze Barthaare markierten noch die Stelle, an der sonst der Rasierapparat lag. Der aufdringliche Geruch nach Pitralon hing noch in der Luft.

Im Schlafzimmer gab der geöffnete Kleiderschrank den Blick frei auf eine leere Kleiderstange. Ein einsames, blauweiß gestreiftes Hemd lag auf dem Schrankboden. Wie sie diese Streifenhemden hasste. Nicht einmal als Putzlappen würde sie dieses Hemd verwenden wollen. Auf dem Nachtschränkchen links fehlte der Wecker. Auch der Zeitschriftenstapel war verschwunden. Keine Filzpantoffeln unter dem Bett.

Beschwingt lief Valerie in das Wohnzimmer. Der Fernseher war ausgeschaltet. Das erste Mal seit langer Zeit.

Der Typ war weg.

Vor dem Bücherregal blieb sie stehen und seufzte tief und zufrieden: „Jetzt noch all seine Bücher rausschmeißen, diesen ganzen Mist und ich habe wieder Luft zum Atmen.“

Valerie öffnete die Balkontür und ließ die kühle, feuchte Luft hinein und den widerlichen Tabakgeruch heraus. Dann schleppte sie alle seine Bücher zum Balkon. Die Stapel wurden immer höher. Da war kein Buch dabei, das sie hätte behalten wollen. Eigentlich alles nur Schund, den er aber für Belletristik gehalten hatte. Auch der Brockhaus wanderte auf den Balkon, Vorkriegsausgabe, 20 Bände, jeder gefühlt 5 Kg schwer. Wer braucht denn heutzutage schon so was. Ständig hatte er etwas nachgeschlagen, weil er ihr nichts glaubte. Und immer recht gehabt hatte. Damit ist endlich Schluss, frohlockte sie.

Jetzt noch die 5 Ergänzungsbände aus den 60er Jahren und die Massen an Spiegel- und Focus-Heften der letzten 10 Jahren. Sein Politisieren hatte sie nur noch genervt.

Der Balkon ächzte und stöhnte unter der gebildeten Last.

„Nur Fliegen ist schöner“, jubilierte Valerie und begann schwungvoll seine gesammelten Werke hinunter zu werfen. Das Aufklatschen der Bücher auf dem Gehweg war ihr neuer Klang der Freiheit.

Ein leises Knirschen. Eine sanfte Bewegung unter ihren Füßen.

Der Balkon war mit Valeries Freiheitsbestreben überfordert. Er knickte nach vorne ab, die Büchermasse rutschte Richtung Geländer und sorgte für ein dramatisches Übergewicht. Ein Belletristikregen ging auf den Vorgarten nieder, begrub Tulpen und Narzissen, Valerie und ihr Freiheitsstreben.

Manchmal ist Fliegen doch nicht so schön.

© Eberhard Gladrow

              Rheinhessische Landschreiber